Papa ist dann mal im Wald
Wie ein norwegischer Familienvater in der Wildnis zum Märchenhelden wird – Ein Erfahrungsbericht, zum nachmachen geeignet!
Wer sehnt sich nicht
manchmal nach Waldeinsamkeit, vor allem jetzt im Frühling? Als
Sehnsuchtslandschaft beschworen die romantischen Dichter den Wald, als Ort der Abkehr und Sinnsuche. Doch
was ist heute noch dran an seinem Nimbus?
Einer, der auszog, um die
Waldeinsamkeit in der Praxis zu testen, ist der norwegische
Journalist und Familienvater Torbjørn
Ekelund. Daraus ist ein
wunderbar inspirierendes Buch entstanden: Im Wald. Kleine Fluchten für das ganze Jahr. Perfekte
Lektüre für alle Papas, die vom Kurzzeit-Ausbruch
aus dem Alltag träumen. Zum
nachmachen geeignet!
Wiederkehrende Flucht auf Zeit
„Mikro-Expeditionen“, so nennt Ekelund sein Projekt: Jeden Monat, von Januar bis Dezember, zieht er für jeweils eine Nacht in die Wälder vor den Toren Oslos. Hier errichtet er einen Lagerplatz am See – fast immer ist es dieselbe Stätte – und macht nicht viel mehr, als die Natur auf sich wirken zu lassen. Und zwar allein. Es ist eine wiederkehrende Flucht auf Zeit: heraus aus dem Hamsterrad als Angestellter, Stadtmensch, Hausbesitzer, Partner, zweifachem Vater.
Was Ekelund antreibt, ist die Erforschung des Gegensatzpaares Kultur und Natur. „Wir leben in einer Zeit, in der ein Ausflug in den Wald als Heilmittel für mehr oder weniger jedes Leiden verabreicht wird“, schreibt er. „Wir glauben an den lindernden Einfluss der Natur. Während die Kultur zum Gegenstand präziser Analysen gemacht wird, genießt die Natur eine nahezu einhellige Verehrung. Wozu soll das gut sein? Und was ist eigentlich die Natur der Natur?“
Patient März auf der Psycho-Couch
Um
das
herauszufinden, ist es nur
fair, dass Ekelund die Mühe auf sich nimmt, sich
der Natur selbst
auszuliefern.
Dabei
ist er weder
Outdoorfreak noch Ökomissionar. Eine
Leidenschaft fürs
Fliegenfischen
und Kindheitserinnerungen
an Ferien im großelterlichen Waldhaus prägen
ihn, darüber
hinaus ist seine Beziehung zur Natur nicht wesentlich enger als die
eines durchschnittlichen Norwegers.
In
seinem Ton schlägt sich
das angenehm wieder: unpathetisch
ist er,
niemals belehrend oder verklärt. Lustig
an vielen Stellen, an dem Ekelund
sein „Stadtvokabular“ auf die Natur überträgt. So
heißt es über den März wegen seiner krassen Wetterunterschiede:
„Müsste man dem März eine Diagnose stellen, würde sie 'bipolare
Störung' lauten.“ Und über den April: „Multitasking ist
kennzeichnend für die Natur im April ... Nach Monaten der Ruhezeit
explodieren Flora und Fauna geradezu.“ Über
Fliegenattrappen, einem Fliegenfischer-Bedarfsartikel, schreibt
er: „Die
früheren englischen Imitationsfliegen waren manchmal bunt bis an die
Grenze der Geschmacklosigkeit. Besonders die Lachsfliegen erinnern an
die Kostüme alter, westdeutscher Grand-Prix-Teilnehmer.“
Der Sohn wächst an den Aufgaben
Im warmen August darf auch sein 4-jähriger Sohn einmal mit zur Waldübernachtung, monatelang hatte ihn der Kleine bekniet. Was erleben sie nun Großes? Der Junge entdeckt Stöcke, die Schwertern ähneln, Heidekraut und verschrumpelte Himbeeren, und dann, ausgerechnet dieses Mal, verläuft sich der Vater. Doch bevor den Sohn die Angst übermannt, hat Ekelund ein Spiel erfunden und nimmt ihn wie den stolzen Ritter Don Quijote auf seinen Rücken.
Später am See bekommt der Sohn kleine Aufgaben beim Angeln zugewiesen und dem Vater fällt auf: „...er bewegte sich ganz anders, sicher und selbstbewusst, und seine ganze Gestalt ... zeugte von einem kleinen Menschen, der sich groß, ja, vielleicht größer als je zuvor fühlte.“ Es sind die Abenteuer im Kleinen, die so viele Wunder bergen. Zum Abschied werden Vater und Sohn mit dem Anblick einer Elchgruppe belohnt, die der Kleine mit einem munter gekrähten „Meinst du die Pferde, Papa?“ jedoch sofort in die Flucht schlägt.
Verwandlung zum Märchenhelden
Frühling, Sommer, Herbst und Winter - „Im Wald“ ist auch eine wunderbare kleine Philosophie über die Macht der Jahreszeiten. Über die stetige Veränderung als einzige Konstante der Natur. Über das Licht und die Wärme. „Im Wald“ ist eine Liebeserklärung an die Eintagsfliege und eine interessante Abhandlung über das Gedächtnis der Forelle. Und es gibt einen tollen Exkurs über evolutionär sinnlose Gefühle wie die Melancholie. Vor allem aber ist Ekelunds Buch der gelungene Beweis, dass man von kleinen Fluchten nicht nur träumen muss, sondern sie jederzeit, auch als berufstätiger Familienvater, in den Alltag integrieren kann.
Und Ekelunds Erkenntnis nach seinem 12-monatigen Experiment? „Man führt [im Wald] ein grundsätzlich praktisches Leben, und ich glaube, dass sich die Menschen hauptsächlich aus diesem Grund davon angezogen fühlen.“ So wie er selbst die „angenehme Leere“ in seinem Kopf genoss, die sich auf seinen Streifzügen einstellte; so wie auch er die Natur als Boss empfand, der alle Handlungen vorgab.
Dazu kommt die Fähigkeit der Natur, in jedem Menschen eine magische Verwandlung auszulösen: „Diese zwölf Übernachtungen haben meine Theorie bestärkt, dass es nur weniger Dinge bedarf, um sich wie der Held in einem Märchen zu fühlen. Es ist so einfach. Überall auf der Welt gibt es Wälder. Man muss einfach nur hineingehen.“
Torbjørn Ekelund: Im Wald. Kleine Fluchten für das ganze Jahr. Piper Verlag, München/Berlin 2016.